Im Juli 2004 ging durch Europa und Nordamerika die Kunde, dass dem Dickdarmkrebsrisiko vorgebeugt werden könne, wenn man nur 1 bis 2 Gläser Milch pro Tag trinken würde.
Dies habe eine amerikanische Studie unter Beteiligung der Harvard Medical School ergeben, die mit mehr als 500.000 Teilnehmern aus verschiedenen Ländern durchgeführt worden sei. So der Tenor vieler Veröffentlichungen.
Was bei näherem Hinschauen wirklich Sache ist, war ernüchternd.
Ein Artikel - etwas näher betrachtet
Journal of the National Cancer Institute, Vol. 96, No. 13, 1015-1022, July 7, 2004
Cho E, Smith-Warner SA, Spiegelman D, Beeson WL, van den Brandt PA, Colditz GA, Folsom AR, Fraser GE, Freudenheim JL, Giovannucci E, Goldbohm RA, Graham S, Miller AB, Pietinen P, Potter JD, Rohan TE, Terry P, Toniolo P, Virtanen MJ, Willett WC, Wolk A, Wu K, Yaun SS, Zeleniuch-Jacquotte A, Hunter DJ.
BACKGROUND: Studies in animals have suggested that calcium may reduce the risk of colorectal cancer. However, results from epidemiologic studies of intake of calcium or dairy foods and colorectal cancer risk have been inconclusive.
METHODS: We pooled the primary data from 10 cohort studies in five countries that assessed usual dietary intake by using a validated food frequency questionnaire at baseline. For most studies, follow-up was extended beyond that in the original publication. The studies included 534 536 individuals, among whom 4992 incident cases of colorectal cancer were diagnosed between 6 and 16 years of follow-up. Pooled multivariable relative risks for categories of milk intake and quintiles of calcium intake and 95% confidence intervals (CIs) were calculated. All statistical tests were two-sided. RESULTS: Milk intake was related to a reduced risk of colorectal cancer. Compared with the lowest category of intake (<70 g/day), relative risks of colorectal cancer for increasing categories (70-174, 175-249, and > or =250 g/day) of milk intake were 0.94 (95% CI = 0.86 to 1.02), 0.88 (95% CI = 0.81 to 0.96), and 0.85 (95% CI = 0.78 to 0.94), respectively (P(trend)<.001). Calcium intake was also inversely related to the risk of colorectal cancer. The relative risk for the highest versus the lowest quintile of intake was 0.86 (95% CI = 0.78 to 0.95; P(trend) =.02) for dietary calcium and 0.78 (95% CI = 0.69 to 0.88; P(trend)<.001) for total calcium (combining dietary and supplemental sources). These results were consistent across studies and sex. The inverse association for milk was limited to cancers of the distal colon (P(trend)<.001) and rectum (P(trend) =.02).
CONCLUSION: Higher consumption of milk and calcium is associated with a lower risk of colorectal cancer.
PMID: 15240785 [PubMed - indexed for MEDLINE]
Einige Pressemitteilungen zur Studie
Anmerkungen
Merkwürdig erscheinen diese euphorischen Meldungen schon, weil aus ihnen nicht hervorgeht, ob bei den Tierversuchen das Kalzium aus Milch oder über Supplemente verabreicht worden war, und die Ergebnisse epidemiologischer Studien zur Kalziumaufnahme und/oder Milchprodukten in Bezug auf Dickdarmkrebs waren nicht überzeugend gewesen.
Noch verwirrender die Überschrift in RP-online, die da suggeriert, dass ein Studie mit einer halben Million Probanden stattgefunden habe.
Tatsächlich wurde eine Meta-Analyse durchgeführt, in dem 10 Studien aus den USA, Kanada, Schweden und den Niederlanden im Nachhinein ausgewertet wurden, deren Thema in keinem Fall Dickdarmkrebs war, sondern z.B. Brustkrebs oder der Nutzen von Beta-Carotin usw., denen also völlig unterschiedliche Fragestellungen zu Grunde lagen.
Probanden, die in ihrer Anamnese Krebs hatten oder die zu viele Kalorien zu sich genommen hatten, wurden von vorneherein ausgeschlossen.
In den USA liegt das Erkrankungsrisiko für Dickdarmkrebs bei einem Fall auf etwa 1850 Einwohner. Wenn von 534.563 Menschen 4.992 Dickdarmkrebs entwickelt haben sollen, dann kann an den Zahlen und der gesamten Studienkonstruktion vieles nicht stimmen.
Merkwürdig mutet des weiteren an, dass weltweit immer häufiger Stimmen laut werden, die Milchinhaltsstoffe mit der Entstehung von Krebs in Verbindung bringen und nicht mit dessen Prävention.
Kritische Überlegungen fanden, zumindest in dem Bericht des Deutschen Ärzteblattes, Erwähnung:
"Bevor man sich für eine Milchdiät entscheidet, sollte man bedenken, dass andere epidemiologische Studien einen hohen Milchkonsum mit einem erhöhten Risiko an Brustkrebs und Prostatakrebs in Verbindung gebracht haben. Auch mögen Zweifel erlaubt sein, ob die Assoziation wirklich die Realität widerspiegelt. So konnte für sämtliche Milchprodukte, also etwa Käse oder Joghurt, keine Assoziation mit einem geringeren Risiko gefunden werden. Außerdem ist die Frage unbeantwortet, worauf sich die spezielle protektive Wirkung von Milch gründet."
Noch deutlicher allerdings bringt es Dr. June Chan zum Ausdruck:
"Cancer is not just one disease, it is more than 100 different diseases", said Chan, now an epidemiologist at the University of California, San Francisco.
"There are some common risk factors" among cancers, she said. "But at the same time, there are specific risk factors for the individual tumor types."
Die Tatsache, dass erst kürzlich veröffentlichte Harvard-Studien zu dem Schluss gekommen sind, dass Milchkonsum das Risiko an Prostatakrebs und Ovarialkrebs zu erkranken erhöht, ist den ForscherInnen nicht verborgen geblieben. So erklären sie sich diesen scheinbaren Widerspruch mit der Verschiedenartigkeit von Tumoren und demzufolge spezifischen Risikofaktoren.
In Publikationen aus jüngerer Zeit wird deutlich, dass Kalzium und Vitamin D , sowie möglicherweise der Genotypus, eine nicht unerhebliche Rolle bei der Entstehung des Dickdarmkrebses spielen:
Cancer Epidemiol Biomarkers Prev. 2003 Jul;12(7):631-7
Calcium, vitamin D, and risk for colorectal adenoma: dependency on vitamin D receptor BsmI polymorphism and nonsteroidal anti-inflammatory drug use?
PMID: 12869402 [PubMed - indexed for MEDLINE]
oder
Carcinogenesis 2003 Jun;24(6):1091-5
Vitamin D receptor start codon polymorphism and colorectal cancer risk: effect modification by dietary calcium and fat in Singapore Chinese.
PMID: 12807755 [PubMed - indexed for MEDLINE]
Milch enthält fast kein Vitamin D und das Milchkalzium wird von Menschen mit Milchzuckerunverträglichkeit nicht verstoffwechselt. Zumindest diese Menschen hätten also von 'vorsorgendem Milchkonsum' nichts zu erwarten.
Verwundern dürfte auch, warum nämlich >NUR< Trinkmilch einen positiven Effekt haben soll, wenn es doch das Kalzium ist, dem die Krebsprävention zugeschrieben wird: Denn die meisten Käsesorten haben erheblich mehr dieses Minerals aufzuweisen. Als Beispiel sei Emmentaler mit 1020 mg Kalzium pro 100g genannt.
Nun mag sich jeder Leser und jede Leserin selbst ihre Meinung bilden, wem mit dieser "Studie", die keine ist, sondern nur eine nachträgliche Auswertung völlig anders gearteter Studien, wohl am meisten "geholfen" wird........
Und besonders bemerkenswert erscheint das Presseverhalten.
Die Milch-Ovarialkrebs-Studie die von uns im Mai besprochen worden ist, eine "echte Studie mit echten Probandinnen", die Milchkonsum mit einem deutlich höheren Risiko an Ovarialkrebs zu erkranken in Verbindung gebracht hat, ist noch nicht einmal in der deutschen Fachpresse erwähnt worden.
Dies lässt in einen Abgrund blicken. Denn es ist kein Geheimnis mehr, dass die Werbekunden von Zeitungen, Zeitschriften und Fachpublikationen Kritik an ihren Produkten mit Auftragsentzug "belohnen".
Letzte Änderung am 04.12.2011