Im Juli sendete der Schweizer Rundfunk ein interessantes und informatives Interview des bekannten Journalisten Peter Jaeggi zum Thema Milch.
Neben Milchkampagnen der Milchindustrie und Anti–Milch–Kampagnen von Vegetariern, Veganern und Tierschützern, wird seit der Sendung wieder über die Milch diskutiert. Kurz darauf schaltete sich der Präsident des Max-Rubner-Instituts (MRI), des Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, in Karlsruhe, Prof. Dr. Gerhard Rechkemmer via Spiegel online in die Debatte ein.
Daraufhin verfasste der Wissenschaftler und Mediziner Professor Dr. Bodo Melnik, der seit Jahren zu den Zusammenhängen von Nahrungsmitteln und Erkrankungen forscht, eine Gegenrede, die wir hier mit seiner freundlichen Genehmigung veröffentlichen dürfen.
Bodo Melnik ist Dermatologe und Lehrbeauftragter der Universität Osnabrück und international bekannter Akne–Experte. Er untersucht seit Jahren den Einfluss des Milchkonsums auf die Entstehung der Akne und weiterer Zivilisationskrankheiten. Gegenstand seiner Forschungen ist es, die Milch als Signalsystem der Säugetierevolution näher zu charakterisieren. Die von Prof. Rechkemmer geäußerten Aussagen zur Milch beruhen auf der bisher verbreiteten Auffassung, dass Milch ein gewöhnliches Nahrungsmittel darstellt. Diese Annahme ist jedoch falsch und führt zu folgenschweren Fehlschlüssen.
Melnik dagegen betrachtet Milch nicht in erster Linie als Nahrung, sondern als biologisches Signalsystem zwischen Mutter und Neugeborenem, das primär die Aufgabe hat, Wachstum und Programmierung des Neugeborenen während der zeitlich begrenzten Stillzeit zu fördern. Dazu aktiviert Milch den zentralen Schalter zellulären Wachstums, das Enzym mTOR.
Akne, Übergewicht, Diabetes, Krebs und die neurodegenerativen Erkrankungen werden alle auf überhöhte Aktivität von mTOR zurückgeführt und stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang mit kontinuierlichem Milchkonsum.
IGF1 ist das stärkste Wachstumshormon des Menschen, das während der Pubertät die höchsten Blutspiegel erreicht und Akne induziert.
IGF1 ist zwar in Kuhmilch enthalten, spielt in der Milch aber keine wesentliche Rolle. Viel bedeutsamer ist aber die Tatsache, dass Milchkonsum die Bildung von IGF1 in der Leber des Milchempfängers stimuliert. So weisen Milchkonsumenten um 20% höhere IGF1–Blutspiegel auf, als Menschen ohne Milchkonsum.
(Qin LQ et al. Milk consumption and circulating insulin–like growth factor–I level: a systematic literature review. Int J Food Sci Nutr 2009, 60 Suppl 7:330–340;
Rich–Edwards JW et al. Milk consumption and the prepubertal somatotropic axis. Nutr J 2007, 6:28)
IGF1 aktiviert das Enzym mTOR. Erhöhte Serumspiegel von IGF1 stehen in gesicherter Verbindung zu Brust– und Prostatakrebs
(The Endogeneous Hormones and Breast Cancer Collaborative Group. Insulin–like growth factor 1 (IGF1), IGF binding protein 3 (IGFBP3), and breast cancer risk: pooled individual data analysis of 17 prospective studies. Lancet Oncol 2010, 11: 530–542;
Chen W et al. Phenotypes and genotypes of insulin–like growth factor 1, IGF–binding protein–3 and cancer risk: evidence from 96 studies. Eur J Hum Genet 2009, 17:1668–1675).
IGF1 in der Milch ist somit nicht das Problem, sondern die Fähigkeit der Milch, hohe IGF1–Spiegel beim Empfänger zu induzieren. Dies ist ein physiologisch sinnvoller Mechanismus zum Wachstum während der Stillzeit. Dieser Mechanismus ist jedoch nicht als Dauerstimulus vorgesehen. Hier macht der Homo sapiens seit der neolithischen Revolution (Einführung der Milchwirtschaft vor ca. 10 000 Jahren) eine folgenschwere Ausnahme, die durch die flächendeckende Einführung der Kühltechnologie seit Anfang der 1950ger Jahre weiter verschärft wurde.
Melnik teilt nicht die Einschätzung von Herrn Rechkemmer, dass Milchkonsum in „geringem Maße vor Übergewicht schützt“. So zeigten Arnberg und Mitarbeiter (Universität Kopenhagen), dass die tägliche Aufnahme von 1 L Magermilch (35 g Milcheiweiß) über 12 Wochen den Body Mass Index (BMI) bereits übergewichtiger Teenager weiter steigerte.
Wissenschaftler aus Israel demonstrierten kürzlich, dass Mäuse, die zusätzlich mit Kuhmilch gefüttert wurden, deutlich stärker an Gewicht zulegten als Milch–frei ernährte Tiere. Die mit Vollmilch gefütterten Mäuse wiesen erwartungsgemäß eine erhöhte mTOR–Aktivität auf.
Übergewicht ist ein anerkannter Risikofaktor für die Entstehung des Typ–2 Diabetes und erhöhten Blutdrucks. Milchkonsum fördert im Gegensatz zu Fleisch verstärkt die Synthese von Insulin.
Jedes Glas Milch löst nach ca. 20 Minuten einen Insulinpuls aus, der nicht durch die Kohlenhydrate der Milch, sondern durch deren Insulin–stimulierende Aminosäuren hervorgerufen wird. Insulin ist wie sein Schwesterhormon IGF1 ein Wachstumshormon. Durch die Fähigkeit der Milch, die Insulinbildung in der Bauchspeicheldrüse zu stimulieren, trägt Milch zur mTOR–Aktivierung und folglich zu Wachstum bei. Dieser Mechanismus endet natürlicher Weise mit dem Abstillen, besteht aber fort, wenn Milch weiter konsumiert wird. Molekularbiologische Befunde verdeutlichen, dass eine ständige Zufuhr Insulin–stimulierender Aminosäuren zum vorzeitigem Tod Insulin–bildendender Zellen führt.
(Melnik BC. Leucine signaling in the pathogenesis of type 2 diabetes and obesity. World J Diabetes 2012, 3:38–53;
Krokowski D et al. A self–defeating anabolic program leads to β–cell apoptosis in endoplasmic reticulum stress–induced diabetes via regulation of amino acid flux. L Biol Chem 2013, 288:17202–17213).
Daher ist es nicht verwunderlich, dass industrieunabhängige Studien wie die Physicians Healths Study mit 21 660 teilnehmenden Ärzten (Song Y et al. Whole milk intake is associated with prostate cancer–specific mortality among U.S. male physicians. J Nutr 2013, 143:189–196) und die EPIC–InterAct Study in 8 europäischen Ländern mit insgesamt 340234 Teilnehmern ein erhöhtes Diabetes–Risiko in Zusammenhang mit Milchkonsum feststellten (Sluijs I et al. The amount and type of dairy product intake and incident type 2 diabetes: results from the EPIC–InterAct Study. Am J Clin Nutr 2012, 96:382–390).
In Milch–freien Bevölkerungen wie den Kitava–Inselbewohnern in Papua Neuguinea, tritt keine Akne auf. Die Insulinspiegel dieser Menschen liegen 50% niedriger im Vergleich zu Milch konsumierenden Europäern.
(Cordain L et al. Acne vulgaris: a disease of Western civilization. Arch Dermatol 2002, 138:1584–1590;
Lindeberg S et al. Low serum insulin in traditional Pacific Islanders – the Kitava Study. Metabolism 1999, 49:1216–1219).
Das wohl weltweit am häufigsten verschriebene Antidiabetikum Metformin wurde jüngst als mTOR–Hemmer und damit als Gegenspieler der Milch identifiziert.
Die Alzheimer–Krankheit tritt bei Diabetikern deutlich häufiger auf als bei Gesunden. In Analogie zur Akne spielen auch bei der Alzheimer–Erkrankung erbliche Faktoren nur eine sehr untergeordnete Rolle. Wiederum ist es die überhöhte Aktivität von mTOR, die für beide Erkrankungen primär verantwortlich gemacht wird.
(Melnik BC, Zouboulis CC. Potential role of FoxO1 and mTORC1 in the pathogenesis of Western diet–induced acne. Exp Dermatol 2013, 22:311–315;
Caccamo A et al. mTOR regulates tau phosphorylation and degradation: implications for Alzheimer?s disease and other tauopathies. Aging Cell 2013, 12:370–380).
Fehlregulierte Phosphorylierung der Tau–Eiweiße im Gehirn ist auch bei der Parkinson–Krankheit von kritischer Bedeutung. Kyrozis und Mitarbeiter fanden eine enge Korrelation zwischen Milchkonsum und Auftreten der Parkinson–Krankheit in Griechenland.
In einer großen chinesischen Metaanalyse berichteten Jiang und Mitarbeiter jüngst über eine 17%ige Erhöhung des Parkinson–Risikos je 200 g Milchverzehr pro Tag.
Mehr als 85% der Teenager in Industriestaaten entwickeln Akne, nicht dagegen die Milch–frei ernährten Kitava–Inselbewohner. Diese Zahlen sprechen eindeutig gegen die Vorherrschaft erblicher Akne–Auslöser. Adebamowo und Kollegen von der Harvard–Universität wiesen bei epidemiologischer Auswertung der Nurses Health Study II (47355 Frauen) und der Growing–Up–Today–Study (4273 Jungen, 6094 Mädchen) erstmals auf den Zusammenhang zwischen Milchkonsum und Akne hin.
(Adebamowo CA et al. High school dietary dairy intake and teenage acne. J Am Acad Dermatol 2005, 52:207–214;
Adebamowo CA et al. Milk consumption and acne in teenaged boys. J Am Acad Dermatol 2008, 58:787–793;
Adebamowo CA et al. Milk consumption and acne in adolescent girls. Dermatol Online J 2006, 12:1).
Die italienische Dermatologin DiLandro und Kollegen bestätigten in einer multizentrischen klinischen Studie die Korrelation zwischen Milchkonsum zu Akne.
Kürzlich berichteten Burris und Mitarbeiter aus New York über eine dosisabhängige Beziehung zwischen Milchkonsum und Akne.
Das epidemische Auftreten der Akne und die dosisabhängige Korrelation zwischen Milchkonsum und Akne widerlegen die Vorstellung, dass Milch nur bei erblich vorbelasteten Jugendlichen Akne auslöst. Die Akne ist offenbar eine sichtbare Indikatorerkrankung überhöhter mTOR–Aktivität der Talgdrüsen, die durch Milch maßgeblich gefördert wird.
Herr Rechkemmer akzeptiert eine Beziehung zwischen Milchkonsum und Prostatakrebs, ist jedoch der Meinung, dass die Hinweise bisher nicht „überzeugend klassifiziert“ seien. Allen und Mitarbeiter (Universität Oxford) zeigten in einer multizentrischen Studie mit insgesamt 142251 Männern über einen Zeitraum von 8,7 Jahren, dass eine hohe Zufuhr von Milcheiweiß mit einem erhöhten Risiko von Prostatakrebs einhergeht. So erhöhte eine tägliche Zufuhr von 35 g Milcheiweiß das Prostatakrebsrisiko um 32%.
35 g Milcheiweiß sind in 1 L Milch enthalten. Eine Aufnahme von 35 g Milcheiweiß ist ohne weiteres bei täglichem Konsum von Milch, Joghurt und Käse erreichbar. Song und Mitarbeiter (Universität Los Angeles) zeigten in der Physicians Health Study, an der 21660 Ärzte als Probanden mitwirkten, dass der Konsum von Vollmilch das Risiko an aggressiv verlaufendem Prostatakrebs zu erkranken, signifikant erhöht.
Tobias Hagen und Stefanie Waldeck vom Institut für wirtschafts– und rechtswissenschaftliche Forschung der Universität Frankfurt fanden mittels ökonometrischer Methoden eine Beziehung zwischen Milchkonsum und den Mortalitätsraten von Prostata– und Eierstockkrebs in 50 Ländern.
Entsprechend ihrer Analysen prognostizierten die Autoren, dass eine Reduktion des Anteils der Milch von 8% auf 1% der Kalorienaufnahme die Anzahl der Todesfälle für beide Krebsarten um 1/3 bis 2/3 senken würde.
Eine ständige Aktivierung von mTOR spielt bei Entstehung und Fortschreiten von Prostatakrebs eine zentrale Rolle.
(Hsieh AC et al. The translational landscape of mTOR signalling steers cancer initiation and metastasis. Nature 2012, 485:55–61;
Melnik BC et al. The impact of cow's milk–mediated mTORC1–signaling in the initiation and progression of prostate cancer. Nutr Metab (Lond) 2012, 9:74).
Besorgniserregend ist die Island–Studie, die zeigt, dass täglicher Milchkonsum bis zum 20. Lebensjahr das Risiko an aggressiv verlaufendem Prostatakrebs im Alter zu erkranken um den Faktor 3 steigert.
Unter diesem Aspekt sind die Schulmilchprogramme der EU und der Landesregierungen kontraproduktiv.
Eine überhöhte Stimulation von mTOR durch Milchkonsum scheint also nicht nur die sichtbare Talgdrüsenerkrankung Akne negativ zu beeinflussen, sondern auch die Prostata. Hieraus erklärt sich die gesteigerter Häufigkeit von Akne in jüngeren Jahren bei an Prostatakrebs erkrankten Männern.
(Sutcliffe S et al. Acne and risk of prostate cancer. Int J Cancer 2007, 121:2688–2692).
Der Empfehlung, Jugendlichen zum Knochenaufbau ausreichend Kalzium zuzuführen, ist nicht zu widersprechen, jedoch nicht in Form gesteigerten Milchkonsums. Milch liefert zwar viel Kalzium, führt aber gleichzeitig zu unerwünschter, übersteigerter mTOR–Aktivierung. Die Harvard–Forscher um Walter Willett konnten in einer 18–jährigen prospektiven Studien mit 72337 Frauen nach der Menopause keinen Osteoporose–präventiven Effekt durch Milch nachweisen.
Eine hohe Kalziumzufuhr über 1400 mg pro Tag, die durch Milch und Käsekonsum schnell erreicht werden kann, erhöht entsprechend einer Studie des Karolinska–Instituts (61433 Frauen) das Risiko an Herzkreislauferkrankungen zu versterben.
Bemerkenswerter Weise berichteten Feskanich und Kollegen der Harvard–Universität, dass jedes tägliche Glas Milch bei männlichen Teenagern das Risiko für Femurbrüche im Seniorenalter um 9% steigert.
Diese Befunde widersprechen der Vorstellung von Herrn Rechkemmer durch verstärkten Milchkonsum während der Jugend nachhaltig die Knochendichte im Alter optimieren zu können, das Gegenteil scheint der Fall zu sein.
Unkontrollierte, überhöhte Milcheiweißzufuhr in Form künstlicher Säuglingsnahrung steigert entsprechend der frühen Eiweißhypothese die Wachstumsgeschwindigkeit der Kinder und fördert Übergewicht der Kinder bis ins Schulalter.
Darüber hinaus geht beschleunigtes frühkindliches Wachstum mit einem erhöhten Asthma–Risiko einher.
Die im Milcheiweiß in erhöhter Konzentration vorkommenden essentiellen Aminosäuren stimulieren in besonderem Maße das Enzym mTOR.
(Bar–Peled L, Sabatini DM. Regulation of mTORC1 by amino acids. Trends Cell Biol 2014, 24:400–406).
Erhöhte Aktivierung von mTOR durch übermäßige Eiweißzufuhr im Säuglingsalter vermehrt einerseits die Bildung von Fettzellen (erhöhtes Risiko für späteres Übergewicht), hemmt anderseits die Entwicklung regulatorischer Immunzellen, was mit einem erhöhten Allergierisiko einhergeht.
(Melnik BC. Excessive leucine–mTORC1–signalling of cow milk–based infant formula: the missing link to understand early childhood obesity. J Obes 2012, 2012:197653;
Melnik BC. The potential mechanistic link between allergy and obesity development and infant formula feeding. Allergy Asthma Clin Immunol 2014, 10:37).
Der Versuch milchkritische Stimmen, die sich sachlich und industrieunabhängig mit den biologischen Wirkungen der Milch beschäftigen, in einer „alternativ–medizinische Ecke zu isolieren, ist höchst bedauerlich und unwissenschaftlich. Es wird deutlich, dass zwischen wissenschaftlich tätigen Medizinern, praktizierenden Therapeuten und Ernährungswissenschaftlern höchst divergierende Ansichten über Milch bestehen. Wirtschaftliche Interessenskonflikte sind hier nicht auszuschließen. Die Ernährungswissenschaft mag zwar die Bestandteile der Milch gut kennen, versteht aber offensichtlich nicht deren funktionelle Auswirkungen im Körper des Menschen. Dies ist auch nicht ihre primäre Aufgabe, sondern hier ist die Kompetenz der Medizin und Physiologie aufgerufen:
Eine ständige Überhöhung von mTOR gilt als der gemeinsame Nenner aller Zivilisationskrankheiten.
(Johnson SC et al. mTOR is a key modulator of ageing and age–related disease. Nature 2013, 493:338–345;
Xu S et al. mTOR signaling from cellular senescence to organismal aging. Aging Dis 2014, 5:263–273).
Weniger Milchkonsum vermindert die mTOR–Aktivität und eröffnet damit eine riesige, bisher ungenutzte Chance zur Prävention ernster und extrem kostenintensiver Zivilisationskrankheiten. Die Arbeitsgruppe um Kapahi postulierte „weniger TOR ist mehr“.
Der lebenslange Konsum von Milch stellt evolutionsbiologisch gesehen eine neuartige Verhaltensänderung des Menschen dar, deren langfristige Folgen noch nicht in voller Dimension abzuschätzen sind.
Ein differenzierterer und fürsorglicherer Umgang mit den negativen biologischen Effekten chronischen Milchkonsums unter Berücksichtigung validierter internationaler Erkenntnisse ist im Interesse der Volksgesundheit insbesondere von unseren obersten „Ernährungswächtern“ im Max Rubner Institut zu erwarten.
Letzte Änderung am 26.08.2014